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Leseprobe "Flammenschatten"

 

Prolog


Die Dämmerung hatte die Bäume an der Straße schon zu schwarzen Silhouetten gestanzt, als er auf der Hoche- bene das letzte gerade Stück Straße vor den Serpentinen entlang brauste. Er hätte diese Strecke mit verbundenen Augen fahren können und genoss die Kontrolle, die er über den schweren Wagen hatte. Zu Hause würden schon das Abendessen und ein kühles Bier auf ihn warten, was er sich nach einem langen, harten Arbeitstag redlich verdient hatte. Wie schön, das leckere Essen im Kreise der Familie! Seit Maria vor ein paar Tagen aus dem Krankenhaus ent- lassen worden war, lief alles viel harmonischer. Nur seine Jüngste machte ihm Sorgen. Sie war in letzter Zeit richtig bockig geworden, dabei war sie gerade mal sechs! Aber es würde schon werden; seine Große war in dem Alter auch schwierig gewesen, und jetzt? Eine Tochter, auf die man stolz sein konnte! Er würde schon dafür sorgen, dass die Kleine besser spurte. Er tauchte in die Dunkelheit des Waldes ein und konzen- trierte sich auf die erste Kurve. Immer wenn seine Frauen bei einem Ausflug dabei waren, machte er sich einen Spaß daraus, im allerletzten Moment scharf zu bremsen, dann kreischten sie alle vor Schreck. Da kam die Kurve; seine Hände griffen das Lenkrad fester, er nahm den Fuß vom Gas, und genau im richtigen Moment trat er entschlossen auf die Bremse. Nichts. Im Scheinwerferlicht rasten die Bäume auf ihn zu, verzweifelt rammte er den Fuß auf das Bremspedal â€“ brems doch, brems!! Bevor er einen anderen Gedanken fassen konnte, krachte der Wagen gegen eine mächtige Fichte. Ein Feuerball erleuchtete die Dunkelheit.

 

1 Schuljahresbeginn
Endlich waren die Ferien vorbei. Während ihre Kollegen und Schüler wehmütig die verbliebenen Stunden der Frei- heit zählten, genoss Dorothea Berger das angenehme Kribbeln im Magen, das sich wie immer nach langen Pausen im Schulbetrieb eingestellt hatte. Die erste Ferienwoche war himmlisch gewesen â€“ ausschlafen, kein Kleiderzwang, keine Termine, das langsame Gleiten in einen gemächlicheren Lebensrhythmus â€“, aber mit der Stille und der vielen Zeit waren auch ungebetene Gäste zurückgekehrt: die Erinnerungen, der Hass und die lästigste Besucherin von allen, die Frage. Die Frage drängte sich seit Dorotheas zwölftem Lebensjahr immer wieder ungebeten in ihr Bewusstsein. Genug davon! Entschlossen griff sie nach dem Kaffeebecher und stand auf. Es war Zeit, wieder das zu tun, was sie am besten tat: Junge Seelen an den Brunnen des Wissens führen. Zwar tranken die meisten nicht; aber wenn das Wunder dann doch geschah, wenn der Groschen fiel und ein überraschtes Lächeln des Triumphes die faltenlosen Gesichter verzauberte, wenn die geballte Energie der Klasse sich in einer kleinen Explosion ungezügel- ten Lernens entlud, erlebte sie ein High, nach dem sie so süchtig war wie andere nach Drogen. Sie stellte den Becher in die Spülmaschine, drehte sich um und zuckte zusammen. In der Tür stand George. Lautlos wie ein Gespenst war er hereingekommen, als besäße er gar keine Substanz. Mit dem routinierten Blick der Ehefrau registrierte sie Gesichtsfarbe, Augenglanzpegel und Körpersprache. Unruhiger Schlaf, Lustlosigkeit und generelle Unzufrie- denheit â€“ nichts Neues also.

»Guten Morgen«, sagte sie betont fröhlich.

»Morgen«, kam es neutral zurück. Er bewegte sich langsam auf den Kühlschrank zu, was ihn einige Mühe zu kosten schien.

»Muss los, Lehrerversammlung.«

»Mach’s gut.«

Nur keine Sorge.


Der Theatersaal summte vor Aufregung, wie immer zu Schuljahresbeginn. Dorothea liebte diesen ersten Tag, da sie endlich die lästigen Pflichten des Alltags hinter sich lassen konnte. Putzen, Aufräumen, Kleidung einkaufen, Zahnarzt- und Friseurtermine â€“ für die nächsten sieben Wochen hatte sie die perfekte Ausrede, nichts dergleichen tun zu müssen. Dass sie es auch genoss, nicht dauernd mit George zusammen zu sein, hatte sie sich noch nicht eingestanden. Nicht einmal die Aussicht auf zwei Tage langweiliger Fortbildung konnte ihre Freude, die Kollegen wiederzusehen, trüben. Noch wogte die Menge vor dem verblichenen Samtvorhang, der die Bühne von den Zuschauerrängen trennte, und zog Dorothea mit sich.

›Wie geht’s?‹, ›Schöne Ferien gehabt?‹, ›Du bist ja so braun! Wo bist du gewesen? Hier in Rothie?!‹, ›Jetzt fängt die Schinderei wieder an, was?‹

Sie lächelte und grüßte in alle Richtungen, machte Small Talk und arbeitete sich langsam an den Rand des Schwarms vor. Gerade als sie sich etwas Luft verschafft hatte, traf sie auf Séverine und Valeria. Sie küsste ihre Kolleginnen auf beide Wangen (erst links, dann rechts) und ließ sich eine Weile von Sonne, St. Tropez und Sevilla vorschwärmen, von einer anderen Welt. Da summte jemand hinter ihr die Vogelfängerarie aus der Zauberflöte, und ihr Herzschlag kam einen Moment aus dem Takt. Mitten in Valerias Beschreibung einer Strandbegegnung mit einem Torero â€“ ¡oh, Dios mío! â€“ drehte sie sich um und küsste John auf die Wange (links), der seine Rezitation für zwei Achtel unterbrach. John Burns war zwar nicht so kussfreudig wie die Südländerinnen, aber doch berührungsfreudiger als der durchschnittliche Brite, von dem böse Zungen sagten, dass er öffentliche Gefühlsbekundungen nur seinem Hund gegenüber äußere. Was durchaus Dorotheas Erfahrung entsprach. John schien überhaupt nicht zu merken, dass er dauernd vor sich hin sang oder, wenn soziale Konventionen das unmöglich machten, summte. Musik vibrierte in jeder seiner Zellen, weshalb die Jungs ihn gleichzeitig belächelten und bewunderten; die meisten Mädchen dagegen bekamen schon bei seinem Augenzwinkern Herzflattern, bei seinem Lächeln Atemnot und bei seinen Saxofonsolos Ohnmachtsanfälle. Selbstverständlich war Dorothea über solch pubertäres Getue erhaben; schließlich war sie eine lebenserfahrene Frau über 30, und er war gerade mal Mitte 20. So stellte sie nur ganz objektiv fest, dass John Burns mit seiner hochgewachsenen, schlanken Gestalt und den weizenblonden Locken nicht nur der bestaussehende ihrer männlichen Kollegen war, sondern auch der talentierteste, netteste und bescheidenste.

»So, ein Mädchen oder Weibchen wünschst du dir?« Es schadete ja nichts, ihre neu erworbenen Mozart- kenntnisse zu demonstrieren, die selbstverständlich nichts mit der Tatsache zu tun hatten, dass John ein leidenschaftlicher Liebhaber des Salzburger Genies war. »Ich sag den Rothie-Damen, dass sie sich schon mal ordentlich in einer Reihe anstellen sollen.«

John errötete, was sein jungenhaftes Gesicht noch entzückender machte, und fuhr sich verlegen durch seine glän- zende Haarpracht.

»Da kann ich bestimmt lange warten. Geht’s dir gut? Und George auch?«

»Ja, alles okay«, sagte sie ausweichend.

John summte schon wieder.

»Ach, ich wünschte, ich könnte auch singen.«

John hielt überrascht inne.

»Natürlich kannst du singen, jeder Mensch kann das, na ja, mit ganz wenigen Ausnahmen jedenfalls. Man muss es nur üben.«

»Blödsinn â€“ ich trau mich schon nicht einmal mehr, ›Happy Birthday‹ zu trällern. Glaub mir, ich bin ein hoff- nungsloser Fall.«

John lächelte nachsichtig.

»Wetten, dass ich dir in einer Gesangsstunde ein Lied beibringen kann, mit dem du dich auch vor Publikum hören lassen kannst?«

Pah.

»Die Wette gilt. Wenn du das schaffst, â€¦Â« Warum fielen ihr nur völlig unangebrachte Belohnungen ein? »… backe ich dir einen richtigen Kuchen. Das könnt ihr hier ja nicht.«

»Also, ich bitte dich. Aber deine Erdbeertorte ist berühmt, die würde ich gerne mal probieren.«

So, und wo sollte sie hier in der Wildnis des schottischen Hochlands Erdbeeren herbekommen, im September? Dazu musste sie zwei Stunden Auto fahren! Aber warum machte sie sich Sorgen? Das schaffte er sowieso nicht!

»Okay, nächsten Freitag dann, um acht«, schlug sie vor.

»Ich freu mich drauf!«, strahlte John.
Damit wandte er sich anderen Kollegen zu. War sie denn von allen guten Geistern verlassen? Sich freiwillig vor John zu blamieren? Warum konnte sie nicht einfach ihre Klappe halten?! Wütend über sich selbst stieg Dorothea die Stufen zu den Sitzreihen hinauf. Von den oberen Reihen hatte man einen besseren Überblick und außerdem weniger Leute im Rücken. Dorothea spürte immer einen leichten Anflug von Neid, wenn sie ihre hochbegabten oder zumindest exzentrischen Kollegen betrachtete; sie musste ihnen sehr mittelmäßig vorkommen. Ihr war nicht bewusst, dass allein schon ihre deutsche Abstammung, die sie mit ihrem Akzent, ihrer Überpünktlichkeit und Effizienz geradezu parodierte, sie zu einem Unikum machten, von ihrer romanhaften Vergangenheit ganz zu schweigen. Ihre unbritische Direktheit wurde von vielen geschätzt, mehr aber noch von Tischnachbarn gefürchtet. Dorothea hatte zwar in den letzten Jahren sehr viel gelernt und sich neben der Kunst des Understatements auch ein Minimum an Taktgefühl zu Eigen gemacht; ihr Marsch durch das Schuljahr war trotzdem immer noch mit Peinlichkeiten gepflastert. Sei es. Sie liebte diese Schule und ihren Job mit einer Leidenschaft, die jeder, der Freud gelesen und darüber nachgedacht hätte (was aber keiner tat), als Zeichen sexueller Frustration gedeutet hätte. Flirten war jedoch nicht Dorotheas Sache; schließlich saß in ihrer Schulwohnung der arbeitslose Gatte, den sie in dieser Menschensiedlung am Ende der Welt vor seiner Spielsucht zu beschützen suchte, und etwas in ihr klammerte sich noch an den Glauben, dass eines Tages alles besser werden würde.

Hinter ihr drängte jetzt der Kollegenschwarm die Treppe zu den Sitzreihen hoch. Es war fast neun, und gleich würde die traditionelle Ansprache des Direktors beginnen. Um ein Haar hätte sie in dem Geschiebe Jane übersehen, die von ihrem Sitz in der vorletzten Reihe aufsprang, als sie Dorothea sah, und die deutsche Kollegin so fest umarmte, dass Dorothea kurz die Luft wegblieb. Jane Forrester war die Hausmutter von Thornyshades, dem Mädchenhaus, in dem Dorothea Haustutor war. Das trinkfeste, kettenrauchende Muttertier hatte die teutonische Kollegin nach anfänglicher Skepsis lieb gewonnen und es zu ihrer heimlichen Mission gemacht, Dorothea von ihrem missratenen Gatten zu befreien. Nach einer ausführlichen Begrüßung setzten sich die beiden Frauen auf die rot bezogenen Stühle, die schon bessere Tage gesehen hatten.

»Und, wie waren deine Ferien?«

Dorothea zögerte den Bruchteil einer Sekunde und zupfte an ihrem kurzen, dunklen Haar.

»Es ging. Ich konnte diesen Sommer nicht nach Deutschland fahren, weil ich immer noch knapp bei Kasse bin, obwohl wir die Wohnung in Glasgow verkauft haben. Aber immerhin sind wir jetzt schuldenfrei.«

Jane setzte wieder zu einer Umarmung an, aber Dorothea sprach schon weiter.

»Ich habe George ein Ultimatum gestellt, aber er weigert sich kategorisch, eine Therapie zu machen. Seiner Meinung nach ist das völlige Geldverschwendung. Er habe alles im Griff, sagt er, und schwört hoch und heilig, nie wieder in die Nähe eines Wettbüros zu kommen.«

Jane schüttelte skeptisch den Kopf. Sie hatten schon wiederholt über Georges Spielsucht gesprochen.

»Hat er denn endlich eine Arbeit in Aussicht?« »Wir haben ein paar Bewerbungen geschrieben, aber es wurde nichts draus.«
Jane zog vielsagend die Augenbrauen hoch.

»Es ist wirklich nicht leicht für ihn«, verteidigte Dorothea ihren Mann. »Immerhin ist er schon 50, und wir stecken mitten in der Wirtschaftskrise. Außerdem«, gab sie nach kurzem Zögern zu, »hat er nie etwas anderes gemacht als sein Gut zu leiten. Aber das gehört jetzt dem National Trust, und wir wohnen in einer Schulwohnung, die wir auch verlieren, falls ich hier rausfliege. Ich habe immer noch keinen unbefristeten Arbeitsvertrag! Ich â€¦Â« Ihre Stimme versagte.

Jane legte ihr die Hand auf den Arm.

»Jetzt rede doch keinen Unsinn. Warum sollte die Schule dich rauswerfen? Jeder weiß, wie hart du arbeitest und wie gut die Ergebnisse deiner Schüler sind. Und was sollten wir in Thornyshades ohne dich machen? Das sind doch nur Hirngespinste. Nein, wenn jemand rausfliegen sollte, dann George! Ich weiß nicht, warum du das so lange mitgemacht hast. Geld verspielen! Damit sollte James mir bloß kommen!«

James war Janes ›bessere Hälfte‹, wie sie ihn nannte. Offiziell war er nur als Mathelehrer eingestellt, inoffiziell trug er auch den Titel ›Vizehausmutter‹ in Thornyshades.

»Das sagt sich so leicht. Schließlich ist George mein Mann, und ich habe versprochen, in guten und in schlechten Tagen und so weiter. Wo soll er denn hin? Er hat kein Geld, seine Eltern sind tot und der Rest seiner Sippe will nichts mehr wissen von ihm, seit er den Familienstammsitz verspielt hat. Schließlich war ich als Baronin ein Jahr lang sehr glücklich, und er liebt mich wirklich. Irgendwie kriege ich ihn da schon durch!«

Gereizt zog sie ihre Jacke aus und hängte sie über die Rücklehne ihres Stuhls. Sie konnte gute Ratschläge von glücklich Verheirateten schlecht ertragen. Was wussten die schon? Jane tätschelte ihre jüngere Kollegin beruhigend, schüttelte aber skeptisch den Kopf.

»Ich hoffe, er weiß zu schätzen, was er an dir hat.«

»Klar weiß er das«, log sie, »das sagt er mir jeden Tag.«

Mit würdevoller Autorität fielen die Flügeltüren des Theatersaals ins Schloss, und die letzten Kollegen setzten sich hastig. Im Saal wurde es still. Erwartungsvoll schaute Dorothea zum Vorhang hinunter, wo Direktor David McLeod, »Mäcklaud«, wie sie ihn in Gedanken nannte, ihr Arbeitgeber und Herr über ihr Schicksal, vor sein Publikum getreten war. Sein Schmerbäuchlein war über die Ferien nicht kleiner geworden und sein Gesicht nahm allmählich in schöner Analogie zur Gesamtgestalt Eiform an. David McLeod holte gerade Luft, um seine Ansprache zu beginnen, als die Tür sich wieder öffnete und Sylvie, noch vom letzten Rave gezeichnet, hereinschlurfte. Als sie den Direktor endlich bemerkte, richtete sie sich ein wenig auf und unternahm einen, wenn auch misslungenen, Versuch, ihr Haar zu stylen. Jane schnalzte missbilligend mit der Zunge, während McLeod ruhig wartete, bis Sylvie sich hingesetzt hatte. Die anderen Lehrer waren in diesem Moment froh, dass sie nicht Sylvie waren. Sie hatten immer ein unbestimmtes Schuldgefühl, wenn sie ihren Chef sahen, denn es war allgemein bekannt, dass seinen schwarzen Augen nichts entging, was in der Schule vorfiel.

»Geschätzte Kollegen«, begann er, während er seinen Blick über die bunte Truppe schweifen ließ, »ich begrüße Sie im neuen Schuljahr und hoffe, Sie hatten einen erholsamen Urlaub.« Er räusperte sich. »Wie Sie alle wissen, befindet sich die Schule in einer prekären Lage... "

 

 

 

 

 

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